Sonntag in der Notaufnahme.

Der Weg in die Charité ist kalt und windig. Beim letzten Mal war der Anlass erfreulicher. Da war es die Geburt meiner Patenkinder. Nun war es meine Vernunft, die mir sagte, dass mal Zeit wäre, medizinischen Rat einzuholen. Seit einer Woche ist mein Herz aus dem Takt geraten. Und diesmal hat es nichts mit Frauen zu tun.


Aus der Kälte des Novembertages erhebt sich mächtig der Gesundheitsmoloch Charité

"Wie lange schon", fragt die unfreundliche Schwester am Empfang. "Seit etwa einer Woche." – "Waren Sie schon beim Arzt?" – "Nein." – "Warum nicht?" – "Ich dachte, es würde schon werden und war außerdem auf Reisen." – "Da hätten Sie doch auch zum Arzt gehen können. Stellen Sie sich mal auf eine lange Wartezeit ein. Wir nehmen erstmal die wirklichen Notfälle dran."

Dann weigerte sie sich, mir auch nur eine Ahnung zu geben, wie lange es dauern könnte. "Nö. Nachher sage ich drei Stunden und dann werden es fünf." Ich versichere ihr, dass ich sie nicht festnageln will, nur eine Ahnung. Sie bleibt eisern. Ich setze mich in den Warteraum, klappe mein Laptop auf und bin überrascht, nach kaum zehn Minuten meinen Namen zu hören.


Neben allerlei Unrat stimmt schon ein Gummihandschuh auf der Erde im Wartesaal auf die folgenden Stunden ein. In Wahrheit ist die Notaufnahme aber pieksauber und die Atmosphäre ist für eine Notaufnahme sehr nett

Die Schwester nimmt mich zunächst ins Gebet, warum ich nicht längst beim Arzt war. Trotz des Reisens. Ich gebe auf, es erklären zu wollen und schaue sie schuldbewusst an. Sie schaut nur streng zurück. Ganz schön aggressiv hier, die Leute.

Das EKG dauert keine zwei Minuten, die Klebepunkte bleiben sicherheitshalber am Körper. Das Blutabnehmen geht auch schnell, wiewohl es bestimmt um die fünf Liter sind, die raussprudeln, die Kanüle bleibt sicherheitshalber in der Vene. Ein Arzt schaut vorbei, sagt, das könne jetzt etwa zwei Stunden dauern. Und dann beginnt das Warten.


Warten und starren und warten. Zwischendurch ein Nickerchen. Sonst passiert nichts. Beim Warten

Drei Stunden. Ohne jedes Entertainment. Drei Betten im Zimmer, getrennt durch weiße Vorhänge. Ich in der Mitte. Rechts eine ältere Frau mit Herzklappe und -beschwerden. Links ein Mädchen, dem die Kanüle im Arm ebenso Unbehagen bereitet wie mir.

Nur, dass ich tapfer bin und sie weinerlich. Als ich lachen muss, sagt sie der Ärztin, ich würde sie auslachen. Und ich rufe über den Vorhang, dass ich es einfach nur genauso empfinde wie sie. Da lachen wir beide. Unterbrochen nur von den erschütternden Schreien eines anderen Mädchens, dem offenbar unter Verzicht auf eine Narkose das Nasenbein gerichtet wird.


Hinter dem Vorhang liegt das Mädchen mit der sympathischen Stimme

Später planen wir gemeinsame Ausbrüche, Patientenstreiks, Gummihandschuh-Ballon-Parties und andere Dummheiten. Plaudern über's Theater, in dem ich aufgewachsen bin und sie als Maskenbildnerin arbeitet. Man kann viel reden in zwei gemeinsamen Stunden auf dem Krankenbett ohne jedes Geschehen. Irgendwann darf sie gehen und zurück bleiben die gemeinsamen Träume, die Notaufnahme der Charité auf den Kopf zu stellen.


Eine ganze Party wird es nicht. Es bleibt beim einen oder anderen aufgeblasenen Gummihandschuh

An ihrer Stelle nimmt nun ein Mann auf der Liege Platz, der über Operationsnarben klagt, aus denen Blut und Eiter läuft. Ich versuche, nicht hinzuhören. Aber es ist wie mit einem Unfall. Kurz muss man doch hinschauen. Ins Krankenhaus seiner OP will er nicht zurück, weil die ihn über seine Krebserkrankung im Unklaren gelassen haben.

Später kommt eine Ärztin, stellt sich vor, schaut wissend und vermittelt mir den Eindruck, sie könne mich aus der wartenden Ungewissheit und ungewollten Details fremder Operationsopfer befreien. Sie schaut in ihre Unterlagen, stellt mir ein paar Fragen und sagt dann, sie verschwinde nochmal kurz. Nach zehn Minuten glaube ich nicht mehr an ihre Rückkehr.

Stattdessen erscheint Maxi. Eine Medizinstudentin im siebten Semester. Doch das erfahre ich erst später. Zunächst ist sie einfach nur schön und will mal nach meinen Herz-Hopserchen lauschen.

Still verharrt sie über mir, ihre blauen Augen ruhen auf meiner sich auf und ab bewegenden Bauchdecke, während sie dem Ton meines Herzens folgt und ich ihr nahezu makelloses Hautbild bestaune. Nichts. Das Herz schlägt im Takt. Sie geht. Und ich rufe noch hinterher "Tut mir leid. Fieses Herzstolpern. Wenn man's braucht, ist es nie da." Sie dreht sich um und schenkt mir ein anbetungswürdiges Lächeln.

Ich bleibe zurück. Sie war bereits das sechste Gesicht an meiner Liege und ich glaube nicht, dass ich sie wiedersehe. Dann aber kommt sie mit der verschollenen Ärztin zurück, die jetzt selbst horchen will, weil Maxi nicht sicher ist, ob sie's vielleicht nicht richtig gemacht hat.

Während die Ärztin konzentriert an meinem Körper lauscht, werfen wir uns das eine oder andere schüchterne Lächeln zu. Mein Herz schlägt trotzdem im Takt. Auch diese Suche nach intermittierenden ventrikulären Extrasystolen verläuft ergebnislos. Das nämlich ist meine Diagnose. Extrasystolen sind Herzschläge, die neben dem normalen Herzrhythmus stattfinden. Ich habe also so eine Art Bonus-Schläge über den normalen Herzschlag hinaus.

Klingt gut, ist es aber nicht. Im Regelfall auch nicht lebensbedrohlich. Wahrscheinlich stressbedingt. Dafür schlucke ich jetzt mal Betablocker. Durch diese Gruppe von Medikamenten, für die es viele Handelspräparate gibt, wird eine überhöhte Aktivität in einem Teil des Nervensystems - Sympathikus - verringert, der unter anderem für die Beschleunigung der Herzschläge und Steigerung des Blutdrucks unter Stress oder bei verstärkter körperlicher Leistung verantwortlich ist. Mit drei Tabletten darf ich gehen.

Vorher rupft mir eine Schwester noch die EKG-Beppel von Brust, Armen und Beinen. "Wollen Sie es männlich selbst machen?", fragt sie mich provozierend. Und ich entgegne: "Nein, ich mag es, wenn andere mir Schmerz zufügen." – "Was zahlen Sie?" – "Was immer Sie wollen." Danach ist unser Gespräch zu Ende und sie rupft. Auch die Kanüle aus meinem Arm, die, wie ich noch erfahre, in dieser Form eigentlich eine Braunüle ist, nämlich ein Venenverweilkatheter.


Nach vier Stunden darf ich gehen. Und die Braunüle zurücklassen. Tat auch weh, das Ding

Nun werde ich mir für eine genauere Diagnose wohl am Dienstag mal ein Langzeit-EKG umschnallen lassen und versuchen, in den nächsten Wochen jobmäßig etwas kürzer zu treten. Mit so einem Herzhüpfen hat man zwar ein vortreffliches Gesprächsthema und erntet auch überdurchschnittliche Fürsorglichkeit bei den Damen. Aber wahrscheinlich würde es damit auch schon enden.

Danach steht dann nämlich schon diese Horror-Vision im Raum, wie ich mitten im Akt leblos über ihnen zusammenbreche. Wenn es überhaupt soweit kommt. Wobei Betablocker ja nur in seltenen Fällen die männliche Potenz beeinträchtigen.


09:31 Uhr von sebasLink3x mitgegeplaudertMitplaudern






 
Angesichts
Vorher rupft mir eine Schwester noch die EKG-Beppel von Brust
stellt sich die Frage: Hühnerbrust? Dann gibt's hier nix zu jammern, Herr Sebas. ;-)

aber dass Sie auch noch photographiert haben ... *lol

Und wie gesagt, das mit der Fürsorglichkeit oder ähnlichem, das vergessen Sie mal ganz schnell wieder. ;-)

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ich kann ihnen sagen
schlucken sie bloß die pillen nicht. zwar hatte ich keine schönen medizinstudentinnen an meinem herz und durfte auch die charité nicht von innen sehen, aber ansonsten kenne ich programm und diagnose ganz genau. bei mir ging's so weiter: die pillen habe ich geschluckt und hatte danach das erste mal in meinem leben ein echtes herzproblem. das 24-h-ekg bringt lustige kurven und grafiken und auch nur die erkenntnis, dass da eben extra-schläge sind.

also habe ich es einfach ein paar jahre nicht untersuchen lassen, in ruhe weiter meinen stress gehabt und - hallo! - lebe mit meinem herz in frieden. wünsche ihnen gleiches, versteht sich.

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Ich vermute, Sie haben vorher nicht "Anatomie 2" gesehen. Machen Sie mal keine Kaspereien mit der Pumpe.

(Und wann kommt der Bericht vom Belastungs-EKG?)

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